- Bettina Fritz
Perfektion und Verletzbarkeit
Aktualisiert: 12. Mai 2020

Seitdem ich mich wirklich mit meiner Verletzbarkeit auseinandersetze, danach lebe und mich sichtbar mache, kommt mir mein vorher sehr ausgeprägter Perfektionismus nicht mehr so schnell in die Quere.
Ich habe viel Energie und Frust durch meine Perfektion erlebt. Eigentlich mein Leben lang. Der Drang nach Perfektion hatte sich schon so tief in mein Handeln gegraben, dass ich den Treiber gar nicht mehr identifizieren konnte und natürlich unter der fehlenden Vollendung - dem Gefühl von tiefer Zufriedenheit und innerem Frieden - gelitten habe. Mein Drang nach Perfektion hatte viel mit meinem "nicht gut genug sein" Gefühl zu tun und meiner Angst, bei Fehlern entlarvt, ausgegrenzt oder nicht geliebt zu werden.
Wie gesagt, gehörte dieser Drang zu meinem normalen Gefühl und befeuerte sich vor allem in meinem beruflichen Umfeld. Mein Pferd Calimero hat mich dann ganz laut darauf gestoßen, weil ich eine verbissene Reiterin geworden war. Mit dem ersten eigenen Pferd wollte ich alles richtig machen!! Habe gelesen und versucht und bin über meine Wut gestolpert. Dann kam alles hoch: ich wollte perfekt reiten - für Calimero. Ich wollte glänzen und liebgehabt werden. Und er hat sich bei diesem Druck verweigert, bzw. ohne Seele funktioniert, was mich hart getroffen hat. Wo ich doch so anders bin als alle seine Reiter vorher und alles "nur für ihn mache". Oh weh, der arme Calimero. Erst meine Wut hat meinen Drang nach Perfektion aufgedeckt und die Gefühle dahinter entlarvt: Einsamkeit, Hilflosigkeit, fehlendes Selbstvertrauen und mir keinen Raum und keine Zeit zu geben, um zu lernen.
Und dann habe ich aufgehört zu reiten. Ich habe den Stecker gezogen und arbeite auch nicht mehr in einer Branche, die mich zwanghaft triggert. Und es ist Frieden da :) Nach etwas Zeit habe ich wieder angefangen mit Calimero spazieren zu gehen und neue Wege zu finden. Nun habe ich ein ganz anderes Ziel: wir beide spüren in der gemeinsamen Bewegung unsere Körper. Ich schaue ihn an und spüre meinen Stolz, dass er seinen Körper spürt und meine Liebe und mein Lob annimmt. Er wird immer wacher, will immer wieder wild mit mir spielen und ich kann darüber lachen, wenn etwas nicht klappt. Das ist immer noch neu für mich UND bringt mich sehr mit meiner Verletzbarkeit in Kontakt. Auch der Schritt raus aus all der Leistung und dem "so muss das sein". Ich stelle mich in dieser Reiter-Pferde-Welt den von allen Seiten laut gebrüllten Gesetzen, wie mit einem Sportpferd umgegangen werden soll, und erlebe dabei oft meine Verletzlichkeit. Ich werde im Stall Frau Hokus Pokus genannt und kann mich hinter keiner Reitweise "verstecken“. So kann ich durch meine Verletzlichkeit gehen und noch größeren Mut dahinter finden, meinen Weg weiter zu gehen und meinem Gefühl zu vertrauen. So erlebe ich Vollendung - in vielen kleinen Momenten - mal durch größeres und mal durch kleineres Tun.
Meinen Weg zu gehen, meinem Gefühl und meinen Impulsen zu vertrauen, mich damit sichtbar zu machen, hat viel mit meiner Verletzbarkeit zu tun. Und wenn ich mit diesem Wunsch wirklich in Kontakt bin, dann erlaube ich mir auch kleine Schritte und kann wachsam sein und wachsen. Bei Schritten in meinem konditionierten Selbst muss ich wirklich aufpassen, nicht direkt zurück in den Perfektionismus zu verfallen. Was schön ist: dann macht es mir direkt auch keinen Spaß mehr und ich lasse das JETZT SOFORT WOLLEN UND FUNKTIONIEREN los. Was sich sau gut anfühlt und ich trotzdem weiß, dass ich da auf der Hut sein muss. Der Wunsch nach Verbindung und wirklicher, ehrlicher Nähe ist mein neuer Treiber geworden, daher gehen wir auch kleinere Schritte. Denn ich bin dabei offen und sehr verletzlich.